RENNES LE CHATEAU / FRANKREICH
Carlisle hatte den nächstbesten Flug nach Toulouse gebucht.
Im Flugzeug hatte er viele Stunden Zeit um sich Gedanken zu machen über alles was passiert war. Es passte einfach zu gut zusammen um ein Zufall zu sein. Er war gespannt darauf, was er in Frankreich vorfinden würde.
Das Flugzeug landete pünktlich in Toulouse. Carlisle holte sein leichtes Gepäck und überlegte seine nächsten Schritte. Er entschied sich völlig unauffällig einen Leihwagen zu mieten und mit diesem zu seinem eigentlichen Ziel weiterzufahren. Er nahm einen schwarzen Audi A 4 mit dunkel getönten Scheiben. Mit diesem machte er sich auf den Weg nach Rennes le Chateau. Die Strasse führte ihn durch idyllische Orte, unter anderem durch das Städtchen Carcassonne. Nach einigen Stunden Fahrt kam er schließlich an seinem Zielort an. Mittlerweile war es durch den Flug, die Zeitverschiebung und die Fahrzeit schon wieder Nacht geworden. Umso besser, so konnte er sich unbemerkt bewegen. Carlisle parkte den Wagen in einer Nebenstrasse und erkundete zu Fuß das mittelalterlich anmutende Dorf. Er hatte viele Geschichten gehört und auch Bücher gelesen, die Menschen in der Neuzeit über den Ort und seine Bewohner geschrieben hatten... und die keine Ahnung hatten was wirklich hinter diesem Dorf steckte.
Carlisle ging zu der kleinen Kirche. Die Tür war nicht verschlossen. Er sah sich darin um. Sie war mittlerweile restauriert worden. Er kannte sie noch in einem anderen Zustand. Es war schon viele Jahre her, dass er das letzte Mal hier war. Er tastete mit den Fingern sanft über den steinernen Altar und die Figuren. Wann war er das letzte Mal hier gewesen? Es musste Ende des 18. Jahrhunderts gewesen sein, bevor er sich entschloss in die neue Welt zu reisen. Hier hatte er einen interessanten Mann und Anführer des hiesigen Vampirzirkels kennengelernt, Bérenger Saunière, der sich eine Zeitlang auch als Abbé dieser Gemeinde in der Öffentlichkeit zeigte. Er und seine Gefolgsleute waren hauptsächlich Männer, die einst dem Templerorden angehört hatten und in den Wirren der Glaubenskriege und der anschließenden Verfolgung der Templer an einen Vampir geraten waren. Sie lebten unentdeckt in den Gewölben des Schlosses. Nur Bérenger wollte eine Zeitlang am öffentlichen Leben teilhaben und lebte einige Jahre als Priester an der Oberfläche des Dorfes. Der Tatsache, dass er mehr Geld ausgab, als er je verdient haben konnte als Pfarrer, verdankt man heute viele der Legenden, die sich um seine Person und den Templerorden und nicht zuletzt den Heiligen Gral ranken.
Carlisle ließ diese Erinnerungen Revue passieren und verließ die Kirche. Wo war Saunière? Er hätte seine Anwesenheit schon lange wahrnehmen müssen. Sie kannten einander. Damals, als er den französischen Zirkel getroffen hatte, hatten sie sich alle sehr gut verstanden. Die Templer hatten sich zuletzt ebenfalls nur noch von Tieren ernährt. Zwischen Carlisle und Saunière war so etwas wie eine Freundschaft entstanden. Hier in der Kirche hatte er Carlisle seine Lebensgeschichte erzählt.
Carlisle wanderte weiter durch das stille Dorf. Der Mond war nun voll und beleuchtete die finsteren Häuser. Schließlich kam er zu dem alten Schloss. Er fühlte und roch immer noch kein Anzeichen von Vampiren. Seltsam. Der Zirkel hatte mindestens zehn Mitglieder umfasst.
Das Schloss war verwahrlost und wirkte verlassen. Dunkle Löcher starrten anstatt von Fenstern aus den brüchigen Mauern hervor. Carlisle ging zum Eingangsportal. Die Tür hing nur noch halb in den Angeln.
Unrat lag an den Mauern herum. Mit leichtem Unbehagen trat er durch die Tür. Innen sah es ähnlich schlimm aus. Ihn empfing ein muffiger Gang, die grosse Halle war fast vollkommen leergeräumt, ein paar kaputte Tische und Stühle lagen herum. Als er zuletzt hier war, war das Schloss noch in einem guten Zustand.
Carlisle ging weiter zu der Tür, die in die Gewölbe hinunterführte. Dort hatte der französische Zirkel im Verborgenen gelebt. Er versuchte die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. Er packte die Tür an beiden Seiten und riß sie mit einem Ruck aus den Angeln. Dann stellte er sie neben dem finsteren Loch das ihm nun entgegensah wieder ab. Er trat die ersten Stufen hinunter. Tintenschwarze Finsternis umgab ihn. Seine Augen gewöhnten sich schnell daran. Carlisle war im unteren Teil angekommen. Er folgte einem schmalen Korridor in einen weitläufigen Gewölbekeller. Hier hatte der Zirkel gelebt. Es war totenstill. Er erkannte zerschlagene Möbel, fadenscheinig gewordene Wandteppiche und den Geruch von altem Tod. In der Mitte des Raumes war alles wie verbrannt. Die Decke war schwarz von Ruß. Was war hier vorgefallen? Waren sie geflohen? Wurden sie angegriffen?
Carlisle ging leise weiter als er plötzlich ein Geräusch hörte. Es war eine Art Röcheln und kam aus der hintersten Ecke des Raumes. Er folgte vorsichtig dem Geräusch. Es wurde lauter und wandelte sich in ein schwaches Knurren. Dann nahm er einen seltsamen Geruch wahr. Er erinnerte ihn wage an seinen alten Freund, Bérenger Saunière, war aber.. irgendwie anders. Carlisle war auf der Hut, wer weiß was
hier alles in der Dunkelheit lauern konnte. Er ging näher an das Geräusch heran und erkannte in einer Nische in der Wand eine zusammengesunkene Gestalt.
Aus der Nische kam ein qualvolles Stöhnen "Bleib weg!".
Carlisle trat einen Schritt näher und dann packte ihn das kalte Entsetzen. Was in der Nische saß, hatte nicht mehr viel mit einem menschlichen Wesen gemein. Der Körper war fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, die Beine fehlten. Aber in dem Gesicht... nein, das konnte nicht sein... aber er war es. Es war Saunière! Die Augen schwarz, das Gesicht zur Hälfte verbrannt, die andere Hälfte eingefallen, die Zähne gebleckt. Aber er war es.
Der Körper des alten Vampirs hatte sich nicht mehr regenerieren können, er war zu schwer verletzt und war auch nicht mehr an Nahrung herangekommen. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch "lebte".
Carlisle kniete sich vor seinen alten Freund und schluckte.
"Bérenger! Erkennst Du mich? Ich bin es, Carlisle!" flüsterte er ihm mit belegter Stimme zu.
"Was ist hier passiert? Wer hat euch das angetan?"
Die Gestalt versuchte sich zu bewegen, die Augen irrten wie blind umher.
"Carlisle? Bist Du es wirklich?" Seine Stimme klang wie das Rascheln von totem Laub.
"Endlich, nach so vielen Jahren... hat mich jemand gefunden."
Seine verbliebene Hand tastete nach Carlisles Arm. Sie war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Der blanke Knochen war zu sehen.
"Hör mir gut zu alter Freund..." begann er und umklammerte krampfhaft Carlisles Arm.
"Seid vorsichtig.. unser Zirkel, er war gross und mächtig... eines Tages hörten wir von Tierangriffen auf die Dorfbewohner... wir wollten helfen... suchten im Wald... begegneten Werwölfen, wie wir sie zuvor nie gesehen hatten. Wir kämpften mit ihnen, konnten sie besiegen. Aber um welchen Preis."
Saunière keuchte und rang nach Luft. "Wir hatten von ihrem Blut getrunken... unsere Verletzungen heilten nicht... wir zogen uns hierher zurück um uns zu regenerieren.. dann passierte es! Uns überkam ein Hunger und eine Wildheit wie wir es noch nie gefühlt hatten... wir konnten es nicht kontrollieren... und begannen uns gegenseitig zu zerfleischen. Es war grauenhaft. Wir brachten uns gegenseitig um! Es war wie ein Blutrausch, nur noch schlimmer! Ich hatte versucht dem Drang nicht
nachzugeben, aber es war so schwer.. ich entzündete ein Feuer.. wir sollten alle darin umkommen.. nun, es hat fast geklappt, nur leider lebe ich noch." fügte er flüsternd hinzu.
Carlisle hatte der Geschichte mit Entsetzen gelauscht. Das war genau das Gleiche, was bei ihnen beinahe passiert wäre... hätten sie sich nicht lange genug beherrschen können.
"Bei uns wäre beinahe das Gleiche passiert. Aber wir konnten die Katastrophe noch abwenden. Kann ich Dir helfen? Soll ich für Dich auf die Jagd gehen? Deine Wunden werden wieder heilen!" schlug er dem Verbrannten vor.
Dieser schüttelte leicht den Kopf.
"Nein mein Freund... den einzigen Gefallen den Du mir tun kannst, ist mich endlich zu erlösen."
Carlisle wollte etwas erwidern, aber Saunière schnitt ihm das Wort ab.
"Tu es Carlisle! Mein Leben ist verwirkt. Ich möchte es nicht mehr. Ich habe lange genug gelebt und möchte bei meinen Freunden sein."
Carlisle nickte traurig. "Was meinst Du wer hinter dem Angriff steckt?"
Bérenger antwortete mit Groll in der Stimme: "Es können nur die Volturi gewesen sein! Wer sonst würde in unserem Zirkel eine Gefahr sehen? Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten nur von Tieren ernährt, wie ihr auch. Wir waren keine Gefahr für die Menschen und sind nie aufgefallen. Diese machthungrigen Bastarde... Diese Werwölfe benahmen sich nicht wie Tiere... es war als würden sie gezielt gesteuert..."
Er zögerte. "Warte... etwas seltsames war noch vor den ersten Angriffen der Werwölfe... ein Vampir.. er kam in das Dorf, er dachte wohl wir hätten ihn nicht bemerkt. Er war etwa 1,75m groß, schwarze nach hinten gekämmte Haare, dunkler Typ... es war als hätte er die Situation ausgelotet, bevor das ganze Spiel begann."
Carlisles Gedanken rotierten. "Nathaniel" stieß er hervor. Wo dieser Vampir auftauchte gab es immer Ärger. Er war eine Art Agent der Volturi. Ein skrupelloser, gefühlloser Vampir.
Carlisle blickte voller Mitleid auf Bérenger.
"Du willst es wirklich?" fragte er ihn leise.
Saunière versuchte zu nicken. "Bring es zu Ende! Und paß auf Deine Familie auf! Machs gut, alter Freund!" krächzte er mit einem Zittern in der Stimme.
Carlisle schloß die Augen. "Du auch, alter Freund." presste er zwischen den Lippen hervor.
Dann beendete er schnell und möglichst schmerzlos das Leben des alten Vampirs und kümmerte sich um die Überreste.
Seine schlimmsten Ahnungen hatten sich damit bestätigt. Die Volturi steckten dahinter. Sie sahen wohl in seiner Familie eine Bedrohung ihrer Macht. Dann noch Renesmee... sie hatten damals auch auffällig schnell kleinbei gegeben und waren abgereist. Das war nicht ihre Art. Dann noch Nathaniel... wenn er in Forks auftauchte, dann wäre das die endgültige Bestätigung.Seine Familie war immer noch in großer Gefahr.
Carlisle verließ das Schloß und ging zu seinem Wagen zurück. Er warf noch einen traurigen Blick zurück auf das alte Gemäuer. Was für eine Verschwendung von Leben.
Er mußte noch jagen bevor er die Heimreise antreten konnte. Die französische Tierwelt konnte ein paar Opfer vertragen. Er jagte schnell und effizient.
Dann setzte er sich in seinen Leihwagen und fuhr auf direktem Weg zum Flughafen nach Toulouse.
Von unterwegs hatte er bereits den nächsten Flug zurück nach Hause gebucht.
Einige Stunden später saß er schon im Flugzeug und hoffte, dass in der Zwischenzeit in Forks nichts passiert war. Und welche Rolle spielte dieses Mädchen?
Carlisle beschloß sobald er in Forks ankommen würde, sofort zum Krankenhaus zu fahren und dort nach dem Rechten zu sehen.
Nach einem endlos scheinenden Flug, landete das Flugzeug endlich. Carlisle holte sein Auto vom Parkplatz und fuhr sofort los nach Forks.
tbc: Forks/Krankenhaus